Rubrik: Essstörungen

Essstörung

Als Essstörungen bezeichnet man medizinisch relevante längerfristige Verhaltensaufälligkeiten (Psychosomatik), die die Nahrungsaufnahme bzw. deren Verweigerung betreffen.

Die beiden bekanntesten und klinisch häufigsten Essstörungen sind die Magersucht (Anorexia nervosa) und die Ess-Brech-Sucht (Bulimie). Auch die Esssucht (Binge Eating) ist als Essstörung anzusehen; Binge Eating ist häufig, aber nicht immer mit Adipositas (extremem Übergewicht) verbunden. Bei allen chronisch gewordenen Essstörungen sind lebensgefährliche körperliche Schäden möglich.

Essstörung muss nicht unbedingt bedeuten, dass sich der/die Betroffene hinsichtlich der Nährstoffe ungesund ernährt. Die Störung liegt in der unüblichen Beziehung zum Essen. Gemeinsame Merkmale essgestörter Menschen sind nach Hilde Bruch (1973) die Störung des Körperbildes, Wahrnehmungsstörungen nach innen und außen sowie im Gefühlsbereich und ein tiefes Gefühl eigener Unzulänglichkeit.

Magersucht

Magersucht (Anorexia nervosa) ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten Gewichtsverlust gekennzeichnet. Durch Hungern und "Kalorienzählen" wird versucht, dem Körper möglichst wenig Energie zuzuführen, durch körperliche Aktivitäten soll der Energieverbrauch gesteigert werden. Der Betroffene sieht dabei den eigenen körperlichen Zustand häufig nicht, er (meist sie) empfindet sich als zu dick, auch noch mit extremem Untergewicht (Körperschemastörung).

Die Folgen der Magersucht sind Unterernährung, Muskelschwund und Auszehrung des Körpers. Die Langzeitfolgen sind z. B. Osteoporose und Unfruchtbarkeit. 5 bis 15 % der Betroffenen sterben, jedoch meist nicht durch eigentliches Verhungern, sondern durch Infektionen des geschwächten Körpers.

In Deutschland sind ca. 100.000 Leute betroffen. 90% der Betroffenen sind Frauen zwischen 15 und 35 Jahren. 10 % sind Männer. Essstörungen bei Männern sind bisher noch wenig erforscht.

Ess-Brech-Sucht

Bei der Ess-Brech-Sucht (Bulimie, Bulimia nervosa) sind die Betroffenen meist normalgewichtig, haben aber große Angst vor der Gewichtszunahme, dem "Dickwerden"; man kann das als "Gewichtsphobie" bezeichnen. Sie ergreifen deshalb ungesunde Gegenmaßnahmen wie Erbrechen, exzessiven Sport, Abführmittelgebrauch oder Fasten. Gerade dadurch kommt der Körper in einen Mangelzustand und es kommt zu so genannten Ess-Attacken, wobei große Mengen Nahrung auf einmal verzehrt werden. Neben diesen Heißhunger-bedingten Fressattacken kommt es noch zu stressbedingten. Das Überessen und Erbrechen wird häufig als "entspannend" angesehen.

Die Ess-Brech-Sucht kann zu Störungen des Elektrolyt-Stoffwechsels, zu Entzündungen der Speiseröhre, zu Zahnschäden sowie zu Mangelerscheinungen führen. Da durch einen gestörten Elektrolythaushalt das Herz angegriffen werden kann, kann es zu Herzversagen und somit zum Tod kommen. In Deutschland sind ca. 600.000 Leute betroffen.

Esssucht, Binge Eating

Eine dritte Art von Essstörungen sind der ständige Heißhunger ("Gieper") auf Nahrung sowie suchtartige Heißhungerattacken, das Binge Eating. Binge Eating ist häufig, aber nicht immer mit Adipositas ("Fettsucht", Fettleibigkeit) verbunden. ("Fettsucht" als solche ist, obwohl der Begriff das suggeriert, keine Sucht; vielmehr ist dieses Wort analog zu solchen Begriffen wie "Fallsucht", "Nesselsucht", "Gelbsucht" und "Schwindsucht" gebildet). Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, zwischen Hunger und Appetit zu unterscheiden und ihren Körper richtig wahrzunehmen. Häufig setzt das normale Hungergefühl komplett aus. Wie bei allen Essstörungen treten bei Frauen oft Störungen im Menstruationszyklus auf, es kann zum totalen Aussetzen der Menstruation kommen. Betroffene des Binge Eating essen in der Regel große Mengen an Lebensmitteln, die sie jedoch anschließend nicht erbrechen (wie bei der Bulimie).

Sowohl die Esssucht als auch das Binge Eating können Übergewicht, Stempelfüße oder Senk- Spreizfüße oder Plattfüße, Zivilisationskrankheiten (zum Beispiel Herzinfarkt, Arteriosklerose, Diabetes mellitus, Arthritis und Arthrose, Gelenkschmerzen und Rheuma, Zahnkaries und Parodontose) zur Folge haben. Die Fettleibigkeit schlägt aufs Gemüt (siehe: Depression) und führt häufig zu sozialer Ausgrenzung, beruflichen Nachteilen und zu Isolation (siehe: Schönheitsideal).

Orthorexie

Erstmals 1997 von Steven Bratman beschriebene Essstörung. Eine immer größere Verbreitung in der Bevölkerung zeigt sich bei der Orthorexie (krankhaftes Gesundessen) oder in Fachsprache Orthorexia nervosa (vom griechischen "orthos" = richtig und "orexis" = Appetit). Bei dieser Essstörung verbringen manche Betroffenen mehrere Stunden täglich damit, Vitamingehalt und Nährwerte zu berechnen und Lebensmittel auszuwählen. Die Auswahl der "erlaubten" Lebensmittel wird immer geringer. Der Genuss am Essen verringert sich immer mehr, weil die Gedanken nur noch um das Essen, Kalorienzählen, Vitamine, Mineralstoffe und um die Gesundheit kreisen.

Die Betroffenen sind oft junge Menschen, die große Angst vor ungesunden Lebensmitteln, wie Süßigkeiten, Fast Food, Fertigprodukten, Backwaren, gekochtem Essen etc. haben. Meist leben die Betroffenen komplett vegan, auf Getreide, Milchprodukte, Kaffee und Alkohol wird ebenso verzichtet. Oftmals besteht auch eine Abneigung gegen Supermärkte und die (meist Rohkost)-Nahrung wird nur im Bioladen oder bei Spezialversendern gekauft. Unter den Betroffenen sind mehr Männer als Frauen. Dies wird auf den Druck zurückgeführt, den der Körperkult zunehmend auf Männer ausübt. Da das männliche Schönheitsideal mehr in Gesundheit, Kraft und Muskeln als im bloßen Dünnsein bestehe, würden Männer eher als Frauen einem gesundheitsfixierten Essverhalten verfallen.

Negative Folgen sind oft ein zu niedriges Körpergewicht und soziale Isolation, weil neben Selbstgerechtigkeit und vermeintlicher moralischer Überlegenheit auch Gesellschaften gemieden werden, da dort nicht mitgegessen werden kann. Gesunde Menschen werden häufig als "Schlechtkostesser" bezeichnet. Verstoßen Betroffene gegen die selbstauferlegten Regeln und essen z.B. anderen zuliebe "schlechte Kost", so haben sie anschließend ein schlechtes Gewissen, das sie z.T. mit Erbrechen oder Fasten ausgleichen. Häufig organisieren sich Orthorektiker in quasireligiösen Sekten wie der sog. Urkost oder der Instinctosekte.

Da die Ergebnisse verschiedener wissenschaftlicher Untersuchungen deutlich darauf hinweisen, dass in Bezug auf die Gefahr von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht nur die verzehrten Lebensmittel, sondern auch die Einstellung zum Essen eine Rolle spielt, kann sich aus der Orthorexie ebenfalls ein erhöhtes Risiko ergeben. Weiterhin behaupten die Rohkostsekten, die einen Sammelpool für Orthorektiker darstellen, dass die Zeichen der Mangelernährung in Wirklichkeit "Zeichen der Entgiftung" seien. Orthorektikern wird so suggeriert, die Bauchkrämpfe, Kopfschmerzen, Durchfälle, Blähungen und der Haarausfall seien Folgen der vorhergegangenen "Schlechtkosternährung" die jetzt "entgiftet" werde.

Bei vielen Orthorektikerinnen kommt es durch die extreme Mangelernährung zu einer sekundären Amenorrhoe, weshalb die Menstruation von Orthorektikerinnen zur Krankheit erklärt wird, die bei "richtiger Ernährung" eben nicht auftrete. Außerdem ergibt sich ein stark erhöhtes soziales Risiko, da Orthorektiker ihr Umfeld, sowohl privat als teilweise auch beruflich, für ihre wahnhaft geprägte Ernährungsform zu missionieren beginnen. Dies führt bei stark ausgeprägter Orthorexie zu Vereinsamung und zum Verlust fast sämtlicher freundschaftlicher Bindungen sowie zur Zerstörung der Familie, da die gesunden Kinder und Lebenspartner missioniert und gegängelt werden.

Zusätzlich erschwert wird die Situation durch die Orthorexie-immanente Einstellung, anderen moralisch, ethisch und gesundheitlich überlegen zu sein, und die stets fehlende Krankheitseinsicht. Dieses Fehlen macht ein sachliches Argumentieren und neutrale Information von Orthorektikern zu real gesunder Ernährung unmöglich. Psychologen wissen schon lange, dass bestimmte Menschen Ideologien oder dogmatischen Weltanschauungen verfallen, weil diese einen Schutzwall errichten - gegen die Orientierungslosigkeit, das Gefühl der Leere oder schlicht gegen die Angst vor dem Leben.

Pica-Syndrom

Das Pica-Syndrom (auch: Picazismus) beschreibt ein seltenes, wenig bekanntes Krankheitsbild, bei dem Menschen ungewöhnliche und ausgefallene Dinge essen, wie zum Beispiel farbige Papierschnipsel, Gartenerde, Ton oder Kreide. Darunter fallen auch Dinge, die bei anderen Menschen Ekel hervorrufen können, wie beispielsweise Exkremente. Diese Essstörung kommt häufiger bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Demenz vor. Bei kleinen Kindern ist zunächst einmal von einem bloßen Ausprobierverhalten auszugehen, bei dem buchstäblich alles in den Mund genommen wird. Erst dann, wenn es häufig und offenbar absichtsvoll gewollt zu unterschiedslosem Aufessverhalten kommt, besteht möglicherweise Anlass, ein Pica-Syndrom anzunehmen.

Das Vorliegen eines Pica-Syndroms ist nicht harmlos, denn es kann u. a. zu Vergiftungen, Unterernährung oder Verstopfung führen. Sogar beim Verzehr von Erde, Papierschnipseln, Kreide oder anderen angeblich harmlosen Materialien kann es zu Infektionen mit Keimen oder Vergiftungen kommen!

Medizinische Einordnung und Forschung

Die medizinische Diagnostik der Störungen richtet sich im deutschsprachigen Raum nach den "diagnostischen Leitlinien" der ICD-10. Im Kapitel V bilden sie eine eigenständige Untergruppe "Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren".

Die Behandlungsanzahl anorektischer und bulimischer Störungen ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Bedeutung des Körpergewichtes und der körperlichen Selbstdarstellung in den Medien und sekundär in den Gesprächsthemen der Gesellschaft immer weiter zugenommen hat. Zugleich mit den empirischen Fallzahlen ist das Bewusstsein über das zugrundeliegende Krankheitsbild zunehmend ins öffentliche Blickfeld gekommen. Ob tatsächlich ein Anstieg der Erkrankungshäufigkeit vorliegt, ist in der Forschung (Habermas1994; Fichter 2000) umstritten.

Die wichtigste Wegbereiterin psychotherapeutischer Forschung zum Sachgebiet Essstörungen ist die deutschstämmige US-amerikanische Therapeutin Hilde Bruch gewesen mit ihrem in vielen Auflagen erschienenen Buch "Eating disorders : obesity, anorexia nervosa, and the person within", das erstmals 1973 puliziert wurde.

Seit 1999 gibt es in Deutschland sogar eine eigenständige medizinische Fachgesellschaft, die Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik, deren Mitglieder vornehmlich aus Medizinern, Internisten, Apothekern, Ernährungswissenschaftlern und Diätassistenten bestehen.

Essstörungen in Kulturgeschichte, Literatur und Medien

Dass das Phänomen Essstörungen in der Kulturgeschichte keineswegs neu ist, sondern unter anderen Namen als populäre Geschichten in der Erzählkultur eine große Rolle spielte, wird durch neuere Forschungen und Veröffentlichungen belegt (siehe Literaturliste). Man erinnere sich z.B. an das Märchen "Der süße Brei" oder die Mär vom Schlaraffenland.

In der deutschsprachigen Literatur denkt man sicherlich sogleich an Franz Kafkas "Hungerkünstler" von Anfang des 20. Jahrhunderts. Weiter zurück verweisen die Balladen-Lyrik eines François Villon, dessen bekannte Zeile aus der Nachdichtung von Paul Zech "Vor vollen Tischen muss ich Hungers sterben..." allerdings eher auf unfreiwillige Folgen sozialer Ungleichheit zurückgeht, aber durchaus Jagger/Richards "I can't get no satisfaction" evoziert. Eine sehr genaue Schilderung familiärer Bulimie-Wahrnehmungen enthält der Erzählband "Lange Tage" von Maike Wetzel. Ulrike Draesner hat 2002 einen umfangreichen Roman ("Mitgift") zum gleichen Thema vorgelegt. Ein ganzes autobiographisches Buch, wie jemand ihre lebensbedrohlich ausgeuferte Bulimie tatsächlich überwinden konnte, lieferte 2003 die weltweit bekannte klassische Violonistin Midori Goto, 2004 in deutscher Übersetzung erschienen. Internetforen und spezielle Webseiten geben ebenfalls Auskunft über das Thema.